Aus der Geschichte des Landkreises
Traditionen der politischen Landschaft
Im politischen Wahlverhalten lassen sich wirtschaftliche, aber auch nachwirkende territoriale und konfessionelle Strukturen ablesen.
Wie nachhaltig jahrhundertealte territoriale, konfessionelle und wirtschaftliche Traditionen noch heute wirken, zeigt ein Blick auf das politische Wahlverhalten im Landkreis Tübingen.
Seit der Gemeindereform von 1972 bis 1975 umfasst dieser politische Raum die Stadt Rottenburg, deren Markung nahezu identisch mit dem alten Nieder-Hohenberg ist, und die auf ehemals ritterschaftlichen Gebieten bestehenden Kommunen Starzach und Hirrlingen sowie die heutigen Ortsteile Ammerbuch-Poltringen und Tübingen-Bühl. Im größten Teil dieses Gebiets lebten die meisten Menschen noch relativ lange von der Landwirtschaft. Während die CDU kreisweit einen langfristigen Zuspruch von etwa 45 Prozent erzielte, betrug der Anteil an den Bundestagsstimmen in den genannten Orten 66 Prozent.
Dies sind auch im baden-württembergischen und südwürttembergischen Vergleich hohe Werte, die durchaus mit denen von Wahlkreisen in vorwiegend katholisch geprägten oberschwäbischen Regionen mithalten können. Tendenziell verlor die CDU im genannten Bezirk allerdings an Stimmen, lag ihr Stimmenanteil hier bis 1969 durchschnittlich noch über 70 Prozent, so sank er im Lauf der 1990er Jahre auf unter 50 Prozent.
Für die Zeit der Weimarer Republik lässt sich das besondere Wahlverhalten des ehemals katholischen Raumes noch deutlicher zeigen, weil mit dem „Zentrum" eine ausgesprochene Konfessionspartei katholische Wählerschichten umwarb. Zwischen 1919 und 1933 wählten die meisten Menschen in den landwirtschaftlich geprägten Orten der ehemaligen Herrschaft Hohenberg und der einstigen ritterschaftlichen Gebiete die Zentrumspartei.
Die Tatsache, dass der Bischof für das heutige Bistum Rottenburg-Stuttgart seinen Sitz in Rottenburg hat, dürfte dieses Wahlverhalten begünstigt haben. In bäuerlichen katholischen Gemeinden wie Dettingen, Hemmendorf, Bad Niedernau oder Seebronn gewann 1906 der Kandidat des Zentrums, der Lammwirt Simon Schach aus Seebronn, die Unterstützung aller Einwohner außer einem einzigen. Während das katholische Zentrum und nach ihm die CDU vor allem in den ländlich-katholischen Gemeinden im Westen des heutigen Landkreises ihren Rückhalt fanden, konnte die Sozialdemokratie traditionell vor allem in eher protestantischen und von der Industriearbeit geprägten Orten viele Wähler gewinnen. Dementsprechend wählten Bürger in den früh von der Eisenbahn erschlossenen Industriestandorten von Kirchentellinsfurt und Lustnau im Neckartal bis hin zu Derendingen, Dußlingen, Gomaringen, Nehren, Mössingen und Bodelshausen im Steinlachtal mehrheitlich sozialdemokratisch.
Neben den eigentlichen Fabrikstandorten fand die SPD auch in deren Nachbardörfern Zustimmung, wo viele Arbeiter wohnten, etwa in den Härtenorten Kusterdingen oder Jettenburg, in Pfrondorf und Dettenhausen, aber auch in Hirschau und Hagelloch. Die meisten der genannten Gemeinden liegen im östlichen Teil des heutigen Kreisgebietes. Allerdings konnte die SPD hier nie eine ähnlich starke Stellung erreichen wie die CDU im westlichen Landkreis. Im Durchschnitt der Jahre 1949 bis 1998 blieb die SPD mit etwa 35 Prozent kreisweit deutlich hinter den etwa 45 Prozent der CDU zurück. Während die CDU in 34 Gemeinden die absolute Mehrheit errang und sich zum Teil einer Zweidrittel-Zustimmung erfreute, kam die SPD nur in Nehren und Hagelloch über die 50-Prozent-Marke.
Während der Zeit der Weimarer Republik bekannten sich insbesondere im Steinlachtal noch mehr Menschen als heute zu den „linken" Parteien SPD, USPD und KPD. Bis 1938 gehörten Bodelshausen, Ofterdingen und Mössingen zum Oberamt Rottenburg, in dem die Zentrumspartei klar dominierte. Aus diesem politischen Umfeld ragte das „rote Steinlachtal" deutlich heraus. Die Einwohner von Dörfern wie Bodelshausen wählten seit 1919 zu 60 bis 70 Prozent links. Auch in Dußlingen, Nehren und Mössingen überwogen die Arbeiterparteien.
Ähnlich stark dominierten linke Parteien in Arbeiterwohnorten wie Dettenhausen (KPD und SPD von 1920 bis 1932 meist etwa 60 Prozent) und, mit Abstrichen, Gomaringen. Arbeitervereine trugen wesentlich zur Stärke der SPD und KPD in diesen Gebieten bei. Während einerseits die staatlich-konfessionelle Tradition der ehemaligen Herrschaft Hohenberg und ritterschaftlicher Gebiete das Wahlverhalten im westlichen Teil des Landkreises maßgeblich beeinflusste und im Osten die Lebensweise einer frühzeitig industrialisierten Gesellschaft das politische Denken mitprägte, finden sich in Tübingen andere Strukturen. Hier kam die jahrhundertealte Tradition der Universitäts- und Behördenstadt zur Geltung und verhalf liberalen Parteien zu einer verhältnismäßig starken Stellung. Beamte und Angestellte gehören zu deren klassischem Wählerpotential.
Während der Weimarer Republik dominierten in der Stadt nichtkonfessionelle bürgerliche Parteien wie die Deutsche Demokratische Partei und die Deutsche Volkspartei, die es zwischen 1919 und 1928 gemeinsam meist auf über 40 Prozent der Stimmen brachten. Sie vertraten in besonderem Maß die Interessen des bürgerlichen Mittelstandes. Auch die rechtskonservative und antirepublikanische DNVP behauptete mit in der Regel etwa 20 Prozent eine starke Position.
Verhältnismäßig früh fanden die Nationalsozialisten in Tübingen Rückhalt, wo sich im Juli 1932 mehr als 40 Prozent der Wähler für die Rechtsradikalen entschieden. Demgegenüber erwiesen sich wie in anderen Regionen auch im Landkreis Tübingen die überwiegend katholischen Gebietsteile, in denen das Zentrum seinen Rückhalt hatte, lange Zeit als relativ resistent gegen die nationalsozialistische Propaganda. Im Oberamt Rottenburg erreichte die NSDAP noch im Juli 1932 nur 21,9 Prozent, halb soviel wie das Zentrum, während die Rechtsextremen im Oberamt Tübingen mit 32,8 Prozent bereits die Mehrheit erlangten. Wenn bei den Wahlen im März 1933 die NSDAP auch kreisweit keine absolute Mehrheit hinter sich brachte, so standen mit 44,5 bzw. 44,6 Prozent doch die meisten Wähler auf ihrer Seite. Die liberale politische Tradition in Tübingen führte nach 1949 die FDP/DVP als lange Zeit dritte Kraft im Ratssaal weiter. Während von 1949 bis 1961 durchschnittlich knapp 37 Prozent aller Wähler in der Universitätsstadt der CDU ihre Stimme gaben, erreichten die Liberalen mit knapp 25 Prozent fast den Stimmanteil der SPD (27 Prozent).
Seit 1980 bewarb sich die Partei der Grünen um die Gunst der Wähler und erzielte insbesondere in der Universitätsstadt Tübingen beachtliche Gewinne. In den 18 Jahren bis 1998 fand sie bei durchschnittlich 22 Prozent der Wähler Rückhalt. Gegenüber den 1950er Jahren verloren CDU (28 Prozent) und FDP (16 Prozent), die SPD legte leicht zu (31 Prozent). Sowohl die FDP/DVP wie auch die Grünen erreichten innerhalb der Stadt Tübingen einen Zustimmungsgrad wie sonst nirgendwo im Kreisgebiet. Das holzschnittartig gezeichnete Bild der politischen Landschaft im Landkreis Tübingen wird in jüngerer Zeit unschärfer.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sorgten vor allem der Zuzug der Heimatvertriebenen und der gesellschaftliche Wandel zur Konsum und Dienstleistungsgesellschaft dafür, dass sich sowohl die konfessionellen als auch die wirtschaftlichen Verhältnisse im gesamten Kreisgebiet einander anglichen. Mit ihnen begannen auch die krassen politischen Grenzen zu verschwimmen. Jedoch spiegelt die politische Landschaft noch immer die Traditionen vergangener territorialstaatlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse.